Erste Professorin für Ergotherapie beendet ihre aktive Zeit an der HAWK
Rund 100 Gäste waren an die HAWK-Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit gekommen, um den Abschied der Professorin zu feiern. HAWK-Präsident Dr. Marc Hudy hob in seinem Grußwort Marotzkis großes Engagement in der Lehre, ihre Erfolge in der Forschung und ihre Bedeutung für die Gemeinschaft der Ergotherapeut*innen hervor. Für die HAWK sei sie als Professorin ein großer Gewinn gewesen. „Sie haben die Hochschule geprägt, Sie haben die Disziplinwerdung ihres Faches ganz entscheidend geprägt. Aber das Schönste, was man sagen kann an einer Hochschule, ist, dass Sie ganz viele Menschen und Biografien von Studierenden geprägt haben, und zwar positiv“, so Hudy.
Ulrike Marotzki, geboren und aufgewachsen in Hamburg, absolvierte zunächst zwischen 1977 und 1980 eine Ausbildung zur Ergotherapeutin in München, damals noch unter der Bezeichnung Beschäftigungs- und Arbeitstherapeutin. Die Entscheidung für ein Studium fiel aufgrund eines Schlüsselerlebnisses bei ihrer anschließenden Tätigkeit in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik in Tübingen. Marotzki entwickelte dort Hilfsmittel für Menschen mit Querschnittslähmung. Durch eine Befragung der Patient*innen wurde ihr damals deutlich, dass viele diese Hilfsmittel im Alltag nicht einsetzen konnten. „Das war der Punkt, an dem ich erkannt habe: Irgendetwas machen wir hier falsch. Hier fehlt etwas“, erinnert sich Marotzki. Denn sie und ihr Team hatten die soziale Situation ihrer Patient*innen außer Acht gelassen. Um ein besseres Verständnis für die Bedürfnisse der Menschen zu entwickeln, entschied sie sich im Jahr 1984, für ein Psychologiestudium. Ergotherapie-Studiengänge gab es damals in Deutschland nicht.
Nach einer Tätigkeit als Diplom-Psychologin in einer Sozialpsychiatrischen Tagesstätte und als Lehrbeauftragte an der Universität Hamburg und der Fachhochschule Osnabrück übernahm sie im Oktober 2000 die Vertretung der bundesweit ersten Professur für Ergotherapie an der HAWK Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim/Holzminden/Göttingen. Dort baute sie den Modellstudiengang Ergotherapie, Logopädie, Physiotherapie mit auf und wurde so zur Pionierin in der Akademisierung der Gesundheitsfachberufe. „Diese Entwicklung wurde damals durchaus skeptisch gesehen“, erinnert sich Marotzki heute. „Es gab viele Vorurteile gegenüber studierten Ergotherapeut*innen, zum Beispiel, dass sie nur noch wissenschaftlich und nicht mehr mit Patient*innen arbeiten wollten.“ Inzwischen sei die Akademisierung der Gesundheitsfachberufe innerhalb der Berufsgruppe weitgehend akzeptiert und gewollt. Politisch bleibe es dagegen ein umkämpftes Thema. Dabei sei die akademische Ausbildung in den Gesundheitsfachberufen europaweit bereits Standard.
Auf Marotzkis Promotion im Jahr 2004 mit dem Prädikat „Ausgezeichnet“ folgte die Berufung als ordentliche Professorin für Ergotherapie an der HAWK. 2005 war sie maßgeblich an der Einführung des Masterstudiengangs Ergotherapie, Logopädie, Physiotherapie beteiligt, den sie bis 2024 leitete.
Sehr engagiert war die Professorin auch in verschiedenen Verbänden und Fachgesellschaften. Dabei war sie Mitbegründerin der Deutschen Gesellschaft für Ergotherapie (DGEW), in der sie bis 2024 auch Vorstandsmitglied war. Auch die deutsche Occupational Science Gesellschaft (dOS) unterstützte sie als Gründungs- und Vorstandsmitglied.
In ihren zahlreichen Publikationen beschäftigte sich Marotzki unter anderem mit der arbeitsbezogenen Ergotherapie, der Unterstützung von Menschen mit psychischen Erkrankungen und Behinderungen, der therapeutischen Versorgung in der palliativen Phase sowie der Theorieentwicklung und Geschichte der Ergotherapie. Dabei setzte sie sich früh dafür ein, konzeptionelle Modelle der Ergotherapie aus den USA und aus Skandinavien in den deutschsprachigen Raum zu übertragen. In diesem Zusammenhang war sie als Autorin und Herausgeberin an wegweisenden Standardwerken beteiligt.
Besonders am Herzen liegt Prof. Dr. Ulrike Marotzki die praxisnahe Forschung. In einem BMBF-geförderten Projekt entwickelte sie von 2012 bis 2015 On- und Offline-Beratungsangebote für Senior*innen. Die zugehörige Webseite, die in einem partizipativen Prozess entstanden ist, wird noch heute vom Landkreis Hildesheim betrieben. Außerdem beschäftigt sich die Wissenschaftlerin nun seit über 10 Jahren mit Jobcoaching für Menschen mit einer Schwerbehinderung. In ihrem aktuellen Forschungsprojekt JoNi erproben Marotzki und ihr Team im Auftrag des niedersächsischen Integrationsamtes und in Zusammenarbeit mit den niedersächsischen Integrationsdiensten, Standards für das Jobcoaching am Arbeitsplatz. Noch bis zum Ende des Projekts im Dezember 2025 wird Marotzki JoNi leiten. „Sinnvolle und erfolgreiche Forschungsprojekte umsetzen zu können, ist ein großes Geschenk“, so die Wissenschaftlerin.
Sinnvolle Projekte bleiben für Marotzki auch im Ruhestand noch wichtig. Aktuell arbeitet sie mit ihrem Team an einem Projekt zur Geschichte der Ergotherapie. Auch eine Tätigkeit in einem Hospizverein kann sie sich für die Zukunft vorstellen. Daneben freut sie sich aber vor allem auf mehr Zeit für ihr geliebtes Tai Chi und beobachtet gespannt die Veränderungen in ihrem Leben nach der aktiven Hochschulzeit. „Ich habe Ideen, was ich machen möchte, aber weiß nicht, wie ich das in 2 Wochen sehen werde. Aktuell bin ich in einer Selbstbeobachtungsphase“, erklärt Ulrike Marotzki zu ihrem Abschied mit ein wenig Selbstironie. „Ich bin mir selbst zum Forschungsobjekt geworden.“